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Kanons und kontrapunktische Sätze
[GA A 18.24] Kanon für Alban Berg zum 50. Geburtstag

Entstehungszeitraum: 09.02.1935
Quellen:

Skizzen und Erste Niederschrift T. 1–6
Weitere Quellen:

Reinschrift

Beschreibung:

Der Kanon ist das Geschenk Schönbergs für Alban Berg zu dessen 50. Geburtstag am 9. Februar 1935. Schönberg sandte die Reinschrift (B) des Kanons zusammen mit einer von ihm besprochenen Schallplatte und dem folgenden Geburtstagsbrief am 22.1.1935 an Berg:
Liebster Freund,
das ist das angefangene Gedicht, welches, als ich es anfing, mich zuerst in eine optimistische Stimmung brachte, die selbst die Schwierigkeiten des Versmaßes und der Reime zu überwinden versprach:
Die mir die Mitwelt geraubt,
Rühren mir jetzt an die Nachwelt,
Die ich mir sicher geglaubt.
Dem, der auf sie seine Sach stellt,
Sollte, die keinem gehört,
Dienen solange als Zuflucht,
Widerspruchslos, ungestört,
Als noch im Kampfe er Ruh sucht.
Aber der Optimismus verschwand bald, und ich mußte meinen Plan aufgeben, um zu sagen, daß uns, Dir, Webern und mir die Nachwelt doch nicht wird vorenthalten können, was uns gebührt. Ich kann es noch immer oft genug glauben, aber jetzt nicht sagen. Es ist jetzt so viel Ekelhaftes los in der Welt, daß ich dringend Eures, meiner Freunde festen Glaubens bedarf, um Widerstand zu leisten.
Nun aber wünsche ich Dir zu Deinem fünfzigsten Geburtstag, daß Du weiter die Kraft und Gesundheit hast, die für unseren Kampf so nötig sind, Du, der als einziger unserer Sache allgemeine Anerkennung zu gewinnen imstande warst. Es ist unsere gemeinsame Sache, wir drei stehen und fallen miteinander, und wäre es nicht Sympathie, Freundschaft und Erkenntnis des Wahren und Guten, so würde diese Schicksalsgemeinschaft allein unsere gegenseitige Treue schon verbürgen. Der Dank, den ich Dir und Webern hiefür schulde und darbringe, wird Dich von der Herzlichkeit meiner Wünsche überzeugen: Sei glücklich; wir haben Anteil an Deinem Glück; in jedem Sinne!
Der Kanon und die Platte, beide sind nicht so gut ausgefallen, als ich gerne möchte, und ich bin überzeugt, längstens in einer Woche würde ich einen viel besseren schreiben können. Aber hoffentlich entnimmst Du beidem die Hauptsache: den Wunsch, Dir eine kleine Freude, oder womöglich eine große, zu bereiten.
Dein Arnold Schönberg

Berg dankte dem fernen Freund noch an seinem Geburtstag mit bewegten Worten:
Mein Liebster, Bester, Gütigster, ich habe nicht geglaubt, daß man noch so glücklich sein kann, wie ich es war, als heute früh: an meinem Geburtstag - also auf die Minute genau - Deine Gratulation ankam, u. wie ich es seither bin. Ich weiß nicht, über was ich mich am meisten freue: über Deinen so lieben Brief, über das wunderbare Gedicht, über den kunstvollen Canon mit seinen liebevollen Worten u. „Lulu"-Anspielungen (den Erdgeist-Quarten sogar!!!) - - oder über die Schallplatte: Wie wir Deine geliebte traute Stimme vernahmen, brachen wir Beide: Helene u. ich in Tränen aus: es war so, als wärst Du nach langer, langer Trennung zu uns ins Zimmer getreten... Mein liebster Freund, sei tausendmal bedankt - heute kann ich nicht mehr sagen, als diese Worte stammeln; bald schreibe ich Dir ausführlich [...].

In einem weiteren Brief einige Wochen später äußerte sich Berg noch einmal über Schönbergs Geschenke:
[...] Der Canon ist (trotz Deiner Bedenken) wirklich „gelungen", ich habe ihn mir zweihändig herausgeschrieben u., derart fließend gespielt, klingt er wunderbar. Und was Dein Gedicht betrifft: ich finde, daß es auch ohne optimistischen Schluß ein herrliches, völlig abgeschlossenes Sinngedicht ergibt. Und wie dieser Sinn, dieser Gedanke ausgedrückt ist - ! diese 8 Zeilen macht Dir keiner nach, auch keiner, der von Beruf „Dichter" ist [...].

Der von Berg angefertigte Klavierauszug ist im Nachlaß noch erhalten. Schönberg zitiert in seinem Kanon neben den in eine Begleitstimme gefaßten „Erdgeist-Quarten" die ersten Worte (und Töne) Alwas aus Bergs Oper „Lulu": Darf ich eintreten? (I/1, T. 86). Doch wie war Schönberg zur Kenntnis von Bergs damals ja noch nicht vollendeter Oper gelangt?
Berg hatte seine Oper „Lulu" Schönberg zu dessen 60. Geburtstag am 13. September 1934 gewidmet. Damals hatte er dem Freund anstelle einer vollständigen Partitur, die zu diesem Zeitpunkt nicht vorlag (und die Berg auch später nicht mehr vollenden konnte), eine Abschrift des Prologs und der Anfangstakte der ersten Szene zugesandt, die von folgendem Geburtstags- und Widmungsbrief begleitet wurde:
Mein liebster Freund, ich weiß, daß Du auf meine (- auf Alwas) Frage: „Darf ich eintreten?" (die ersten Worte in der Oper „Lulu", wenn der Vorhang aufgeht) mit Schön antworten würdest: „Komm nur ungeniert herein!" und daß ich dann in meine Umarmung all die Gefühle legen würde, die mich an diesem 13. September beseelten. Daß ich es aber nur aus der Entfernung tun kann, ist das eine, was mich an diesem Tag schmerzt. Das andre, daß ich Dir - alles eine Folge dieser fürchterlichen Zeit - nicht mit einem wirklichen Geschenk nahen kann, sondern nur mit einer Widmung. Nimm sie, bitte nicht nur als ein Produkt jahrelanger, Dir zuinnerst geweihter Arbeit entgegen, sondern auch als eine Dokumentierung nach außen hin: die ganze Welt - und auch die deutsche - soll in der Zueignung dieser deutschen Oper erkennen, daß sie - wie mein ganzes Schaffen - beheimatet ist in dem Bezirk deutschester Musik, der für ewige Zeiten Deinen Namen tragen wird.
Ein dritter Schmerz: daß ich Dir nicht die Partitur der ganzen Oper zu Füßen legen kann, sondern nur die Abschrift des Anfangs. Aber die bereits 1930 mitunterschriebene Vertragsformel: „Meine Niederschrift des Werkes verbleibt im Besitze der Verlagshandlung als deren Eigentum.", hindert mich leider, leider daran.
Was ich Dir an diesem Tag sonst noch zu sagen habe, habe ich an anderer Stelle in kunstvollerer und würdigerer Form gesagt, als ich es in diesem Brief tun kann, der ja nur ein Begleitschreiben zu dieser Sendung sein soll u. worin ich gar nicht versuchen wollte die mein ganzes Gefühlsleben umspannenden Geburtstagswünsche auszudrücken. Ich weiß, daß Du sie - auch unausgesprochen - als zeitlebens ausgesprochen erkennst und somit gnädig hinnimmst
von Deinem Berg [...]

Ob diese briefliche Anspielung Bergs auf den Beginn des I. Akts die - durch (zitierte) Frage und Antwort struktu­rierte - Konzeption des Schönbergschen Kanons vielleicht unmittelbar angeregt hat, bleibe dahingestellt. Schönberg hat, wie er später an Berg schrieb, den „Lulu"-Prolog mehrfach durchgelesen und war von Originalität und Reichtum der Bergschen Musik tief beeindruckt. Die Widmungs-Abschrift des Prologs enthält jedenfalls die von Schönberg zitierte Frage Alwas (Darf ich eintreten?); das Manuskript - es wird heute in der British Library aufbewahrt - endet mit T. 89, von T. 90 wurde lediglich der Notentext der Partie Schöns, jedoch nicht die Textunterlegung Komm nur ungeniert herein! abgeschrieben; diese hätte Schönberg nur aus Bergs Brief erschließen können. Schönberg jedenfalls übernahm in wörtlichem Zitat nur die Eingangsfrage Alwas und setzte dann anders fort.
Noch in einem anderen Punkt knüpft Schönberg direkt an Bergs Widmungsbrief an. Berg deutet in seinem Brief über die deutlich ausgesprochene Identifizierung seiner eigenen Person mit Alwa hinaus auch eine Identifizierung Schöns mit Schönberg an. Die während der Arbeit an der Oper eingetretene Identifizierung Bergs mit der Figur des Alwa hat bekanntlich zu Änderungen der Wedekindschen Vorlage geführt; so ist Alwa bei Berg, anders als bei Wedekind, Komponist. Eine unscheinbare Änderung betrifft nun auch die in Schönbergs Kanon zitierte Eingangs-Frage Alwas, die in einem frühen Prolog-Entwurf aus dem Jahre 1928 noch dem Dramentext Wedekinds entsprechend Darf man eintreten? lautete; erst durch die spätere Änderung aber ist der in Bergs Widmungsbrief hergestellte persönliche Bezug Berg/Alwa - Schönberg/Schön überhaupt möglich. Schönberg übernimmt diese Beziehungs-Symbolik in seiner Kanontextierung, noch mehr aber in seinem Begleittext - und führt damit wiederum einen Gedanken aus Bergs Brief weiter.
Widmung: Liebster Freund, Kanons sind nun einmal unendlich, sonst ließe ich keinen sooft fragen, auch wenn ich noch so gerne unendlich oft: „Herein“ schreien möchte. Dieser Kanon ist leider unendlich mies und ich hoffe, Du verdirbst Dir an Deinem 50. Geburtstag nicht die Stimmung damit. Warte lieber bis zum 60. oder 70. (bis 100, wie wir sagen).
Dein Arnold Schoenberg

(Okuljar, Tadeusz; Sichardt, Martina: GA, Reihe B, Bd. 18, Teil 1, S. 121-123)

Überliefert sind Skizzen und Erste Niederschrift T. 1-6 (A) sowie die Reinschrift (B). (Okuljar, Tadeusz; Sichardt, Martina: GA, Reihe B, Bd. 18, Teil 1, S. 121)

Besetzung: Gemischter Chor
Gattung: Chorwerke --> Kanons und kontrapunktische Sätze
Text:

Text nach GA:

Darf ich entreten?
Du fragst noch?
Sei gegrüßt!
Bringst, Gruß, bringst Ehr', bringst Freude herein!
Wie kannst du fragen?

Übersetzter Text:

Text nach GA:

Darf ich entreten?
Du fragst noch?
Sei gegrüßt!
Bringst, Gruß, bringst Ehr', bringst Freude herein!
Wie kannst du fragen?

beteiligte Personen: Alban Berg (1885-1935) - Widmungsträger(in)
Arnold Schönberg (1874-1951) - Textautor(in)

Erstdruck: GA, Reihe A, Bd. 18, S. 184
Gesamtausgabe: Reihe A, Bd. 18, S. 184; Reihe B, Bd. 18, Teil 1, S. 121-125; Skizzen: Reihe B, Bd. 18, Teil 1, S. 124-125

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